Intergalaktische Gasfilamente durchziehen das Universum

Sie durchziehen den Kosmos wie Spinnweben in einem Raum, der lange keinen Staubsauger mehr gesehen hat: In sogenannten Filamenten, unergründlich großen, fadenförmigen Strukturen aus heißem Gas, die Galaxien und Galaxienhaufen umgeben und verbinden, vermuten Astrophysiker schon seit längerem die bisher verborgene Hälfte der Materie in unserem Universum.

Wir verdanken unsere Existenz einem winzigen Irrtum. Nachdem sich nach dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren die Materie des Kosmos in einer gigantischen Gaswolke ausbreitete, war sie darin fast gleichmäßig verteilt. Fast, aber nicht ganz: In manchen Teilen war die Wolke etwas dichter als in anderen. Und nur aus diesem Grund gibt es heute Planeten, Sterne und Galaxien. Denn in den dichteren Bereichen herrschte eine etwas höhere Gravitationskraft, die das Gas aus der Umgebung zu sich zog. So konzentrierte sich im Laufe der Zeit immer mehr Materie in diesen Regionen. Der Raum dazwischen leerte sich hingegen. Es entwickelte sich eine Art Schwammstruktur: große Löcher ohne jegliche Materie, dazwischen Bereiche, in denen sich Tausende von Galaxien auf kleinem Raum versammeln, so genannte Galaxienhaufen.

Wenn das wirklich so passiert ist, müssten die Galaxien und Haufen noch durch Reste dieses Gases verbunden sein, wie die hauchdünnen Fäden eines Spinnennetzes. “Berechnungen zufolge ist mehr als die Hälfte der gesamten baryonischen Materie in unserem Universum in diesen Fäden enthalten – das ist die Form der Materie, aus der Sterne und Planeten bestehen, aber auch wir selbst”, erklärt Prof. Dr. Thomas Reiprich vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn. Doch bisher ist sie unserem Blick entgangen: Durch die enorme Ausdehnung der Filamente ist die Materie in ihnen extrem verdünnt: Sie enthält gerade einmal zehn Teilchen pro Kubikmeter, das ist viel weniger als im besten Vakuum, das wir auf der Erde erzeugen können.

Doch mit einem neuen Messinstrument, dem Weltraumteleskop eROSITA, konnten Reiprich und seine Kollegen das Gas nun erstmals vollständig sichtbar machen. “eROSITA hat sehr empfindliche Detektoren für die Art von Röntgenstrahlung, die von dem Gas in den Filamenten ausgeht”, sagt Reiprich. “Außerdem hat es ein großes Gesichtsfeld – wie ein Weitwinkelobjektiv fängt es einen relativ großen Teil des Himmels in einer einzigen Messung ein, und das mit einer sehr hohen Auflösung.” So lassen sich in vergleichsweise kurzer Zeit detaillierte Bilder von so riesigen Objekten wie Filamenten aufnehmen.

In ihrer Studie untersuchten die Forscher ein Himmelsobjekt namens Abell 3391/95. Dabei handelt es sich um ein System aus drei Galaxienhaufen, das etwa 700 Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist. Die eROSITA-Bilder zeigen nicht nur die Haufen und zahlreiche Einzelgalaxien, sondern erstmals auch die Gasfilamente, die diese Strukturen verbinden. Das gesamte Filament ist 50 Millionen Lichtjahre lang. Doch es könnte noch gewaltiger sein: Die Wissenschaftler vermuten, dass die Bilder nur einen Ausschnitt zeigen.

“Wir haben unsere Beobachtungen mit den Ergebnissen einer Simulation verglichen, die die Entwicklung des Universums rekonstruiert”, sagt Reiprich. “Die eROSITA-Bilder sind den computergenerierten Grafiken verblüffend ähnlich. Das deutet darauf hin, dass das weithin akzeptierte Standardmodell für die Entwicklung des Universums korrekt ist.” Vor allem aber zeigen die Daten, dass die fehlende Materie wahrscheinlich tatsächlich in den Filamenten verborgen ist.

Optisches Bild des Systems Abell 3391/95 (Bild: Reiprich et al., Astronomy & Astrophysics)
Standbild aus einer Simulation, das die Verteilung des heißen Gases zeigt (links), verglichen mit dem eROSITA-Röntgenbild des Systems Abell 3391/95 (rechts) (Bild: Reiprich et al., Astronomy & Astrophysics)
In dieser Ansicht des eROSITA-Bildes (rechts; links wieder eine Simulation zum Vergleich) sind auch die sehr schwachen Bereiche des dünnen Gases sichtbar. (Bild: links: Reiprich et al., Space Science Reviews, 177, 195; rechts: Reiprich et al., Astronomy & Astrophysics)

2 Comments

  • Eventuell setzt sich die Struktur aus Filamenten und Voids in größerem Maßstab fort und unser Sichtbereich des Universums ist ein kleiner Teil in einem solchen, expandierenden Super-Void. Die Filamente außerhalb unseres Sichtbereichs können wir nicht sehen. Aber ihre Gravitation sorgt für die Expansion unseres Voids. Irrtümlich wird die Expansionsursache immer noch einem “Urknall” zugeordnet. Die Muster im heißen Plasma der kosmischen Hintergrundstrahlung könnten durch die Gravitation der weit jenseits unseres Sichtbereichs liegenden Super-Filamente entstanden sein. Sie wären dann so etwas wie “Schatten” dieser Filamente.

    • Durchaus möglich. Damit es eine Theorie wird, müsste man noch einen Weg herausfinden, das messtechnisch zu überprüfen. Und dann kann man natürlich fragen, warum der unsichtbare Supervoid expandiert und wann und warum das angefangen hat 🙂 Ich glaube, wenn man vom Urknall weg will, müsste das Universum außerhalb statisch sein, sonst verschiebt man ja die Frage nach dem Urknall bloß in größere Dimensionen.

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BrandonQMorris
  • BrandonQMorris
  • Brandon Q. Morris, 54, ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit den spannenden Phänomenen des Alls. So ist er für den redaktionellen Teil eines Weltraum-Magazins verantwortlich und hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Weltraum-Themen geschrieben. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Ihn fasziniert besonders das „was wäre, wenn“. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten – und vielleicht auch irgendwann Realität werden.