Das Artefakt

Geralt drückt das Solarpanel der uralten Sonde mit aller Kraft nach unten, bis sich endlich der Hohlraum öffnet, den ihm das tragbare Röntgengerät gezeigt hat. Er entnimmt das längliche Objekt und hält es unter die neutralweiße Handleuchte. Es ist gelb und hart, und in der Mitte ragt eine Art Strick heraus.

»Hast du etwas gefunden?«, fragt eine tiefe Stimme hinter ihm.

Geralt zuckt zusammen. Warum muss sich Boris immer so anschleichen?

»Ja, aber ich kann damit nichts anfangen.«

Er wischt die Methantropfen von seinem Visor. Sie hätten die Sonde ins Labor schleppen und dort auseinandernehmen sollen. Aber Boris war so stolz auf den gemeinsamen Fund gewesen, dass er auf der sofortigen Untersuchung bestanden hatte. Er hält seinem Freund das Artefakt hin.

»Oder hast du eine Ahnung, womit wir es zu tun haben?«, fragt er.

Boris beugt sich zu ihm hinunter und nimmt ihm den Gegenstand ab. Er dreht und wendet ihn und hält ihn dann dicht vor seine Augen. Vermutlich schaltet er gerade in den Lupenmodus – einer der Vorteile, die die genmodifizierten Snarushi haben. Von dem generellen Bonus abgesehen, dass sie außerhalb der Unterkünfte atmen können, während er selbst stets seinen Raumanzug tragen muss.

»Ich sehe ein paar Wörter darauf«, sagt Boris.

»Kannst du sie entziffern?«

»Narru wirtndau«

»Narru wirtdau?«

»Narru wirtndau. Da ist noch ein N nach dem T. Aber das ergibt keinen Sinn.«

»Vielleicht ist es eine der Altsprachen«, sagt Geralt. »Wären wir im Labor, könnte ich in meinen Wörterbüchern nachsehen.«

»Aber du gibst doch immer damit an, dass du Alt-Englisch sprichst?«

»Narru wirtndau ist definitiv nicht Englisch. Gib mir das Ding mal.«

Sie hatten sich so gefreut, alte Erd-Technologie zu finden, und alles, was darinsteckt, scheint dieses seltsame Objekt zu sein! Er hält es vor seinen Helm, kann die Buchstaben aber nicht erkennen.

»So wird das nichts«, sagt er. »Kannst du den Text auf den Sand malen?«

»Du meinst, mit den Füßen, so?«

Boris zeigt ihm seine nackten Zehen, und ein Schauer läuft über Geralts Rücken. Er weiß zwar, dass die Außenhaut den Snarushi schützt, aber er wirkt trotzdem so unglaublich verletzlich hier draußen, bei minus 179 Grad Celsius. Er korrigiert sich: bei 94 Grad. Niemand außer ihm rechnet noch in Celsius. Das liegt wohl daran, dass er Archäologe ist und sich mit alter Technologie befasst.

»Ja, zeichne sie in den Sand.«

Boris sieht sich um.

»Darf ich?«

Geralt nickt, und der Freund stützt sich auf seiner Schulter ab. Die Hand ist schwer. Boris streicht mit dem Fuß ein Stück des Eissandes glatt und zeichnet dann die Buchstaben nach. Dann setzt er den Fuß wieder ab.

»HAPPY«, buchstabiert Geralt. »Das könnte Alt-Englisch sein. Dann würde es so etwas wie ‚Glück‘ bedeuten. War das alles?«

»Nein.«

Boris stützt sich wieder bei ihm ab und zeichnet weiter mit dem nackten Fuß im Eissand.

»BIPTHDAY«

»Wirtndau«, kommentiert er dann, »wie ich gesagt habe.«

Das ist seltsam. »Wirt« könnte Alt-Deutsch sein. Er müsste in seiner Datenbank nachsehen, die er am Laborcomputer erreicht. Das »n« ist vielleicht irgendeine Flektionsform? Und der »dau«? Aber wie soll das zum »happy« passen, das doch ziemlich klar heraussticht?

»Hm«, sagt Geralt, »das ergibt noch immer keinen Sinn. Bist du sicher, dass du das korrekt abgeschrieben hast?«

Boris hält sich den Gegenstand noch einmal vor die Augen und schiebt sein Kinn leicht nach vorn. Dann gibt er ihn Geralt zurück und reibt sich die Nase.

»Äh, das P könnte ein zusätzliches rechtes Bein haben«, sagt er. »Es ist nicht so gut zu erkennen, tut mir leid.«

Ha! So etwas hat er doch vermutet. Er versucht, seinen Triumph zu verbergen, aber es gelingt ihm wohl nicht so recht, denn Boris kneift mürrisch die Augen zusammen.

»Ah, dann heißt es Birthday«, sagt Geralt. »Das ist Alt-Englisch. Der Tag, an dem du geboren wurdest.«

»Ich?«

»Nein, irgendwer.«

»Ah. Auf dem Ding steht also so etwas wie ‚glücklicher Geburtstag‘?«

»Ja. Vielleicht ist es ein Wunsch, oder eine Beschwörung.«

»Woraus besteht es denn?«, fragt Boris.

»Jede Menge langkettiger Kohlenwasserstoffe«, sagt Geralt. »Es sind so viele verschiedene Verbindungen, dass mein Hand-Analysator abgestürzt ist.«

»Aber irgendwas wird doch die Basis bilden?«

»Wenn du es genau wissen willst – Palmitinsäuremyricylester, chemisch C15H31–COO–C30H61, kommt am häufigsten vor.«

»Und dieser Faden am Ende, was ist das?«

Das hat Geralt sich auch schon gefragt. Er scheint aus einem anderen Stoff gemacht. Laut Röntgenbild zieht er sich durch das gesamte Objekt. Aber nur am schlankeren Ende schaut er heraus.

»Er geht einmal quer durch«, sagt er, »und scheint mir aus einer Art Gewebe zu bestehen.«

Boris nimmt ihm das Objekt ab. Dann schiebt er das dünnere Ende durch die halbdurchlässige Membran vor seinem Mund. Es sieht aus, als würde er daran lutschen oder darauf herumkauen. Geralt lässt ihm Zeit, betrachtet ihn aber aufmerksam. Nach drei Minuten zieht Boris das Objekt wieder aus seinem Mund. Es ist an der Spitze leicht verbogen.

»Was hast du getan? Das ist vielleicht ein wertvolles Artefakt.«

»Ich habe es auf Körpertemperatur erwärmt. Anscheinend wird es dann biegsam.«

»Auf Körpertemperatur?«

Boris nickt. Geralt muss kichern.

»Warum lachst du?«

»Die Form, Boris, und die Tatsache, dass es bei Körpertemperatur biegsam wird – ich glaube, wir haben ein uraltes Sexspielzeug entdeckt. Bestimmt war es ein Geschenk unter Eheleuten. Oder eine Frau hat es ihrer Geliebten geschenkt, die auf eine Weltraummission gestartet ist.«

Boris tritt einen Schritt zurück und sieht ihn skeptisch an.

»Du willst mich veralbern, oder?«

»Nein, wir wissen aus alten Filmaufzeichnungen, dass derartige Hilfsmittel schon damals bekannt und üblich waren.«

»Aber könnte es nicht sein, dass der Faden so eine Art Zünder ist? Wenn man ihn an einem Ende anzündet, könnte man das gesamte Objekt langsam herunterbrennen lassen.«

»Das wäre doch totaler Unsinn. Warum sollte jemand wertvollen Sauerstoff zu CO2 verbrennen? Und die Kohlenwasserstoffe lassen sich bestimmt zu Nahrung umwandeln. Glaub mir, unsere Vorfahren waren dumm, aber nicht so dumm.«

 

In Einschlag: Titan treffen Sie Boris und Geralt wieder.

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