Neues vom kosmischen Ursprung des Lebens

Nitrile, eine Klasse organischer Moleküle mit einer Cyanogruppe, d. h. einem Kohlenstoffatom, das über eine ungesättigte Dreifachbindung an ein Stickstoffatom gebunden ist, sind in der Regel giftig. Doch paradoxerweise sind sie auch ein wichtiger Vorläufer für Moleküle, die für das Leben unerlässlich sind – für die Ribonukleinsäure (RNS) nämlich. Dass komplexe Moleküle auch im lebensfeindlichen Weltall überraschend häufig sind, wussten die Astrobiologen bereits. Nun hat ein Team von Forschern aus Spanien, Japan, Chile, Italien und den USA gezeigt, dass im interstellaren Raum in der Molekülwolke G+0,693-0,027, nahe dem Zentrum der Milchstraße, ein breites Spektrum an Nitrilen vorkommt.

Dr. Víctor M. Rivilla, Astrobiologe und Erstautor der neuen Studie, sagt: “Hier zeigen wir, dass die Chemie, die im interstellaren Medium stattfindet, in der Lage ist, effizient mehrere Nitrile zu bilden, die wichtige molekulare Vorläufer für das Szenario einer ‘RNS-Welt’ sind.” Diesem Szenario zufolge basierte das Leben auf der Erde ursprünglich nur auf RNS, und DNS und Proteinenzyme entwickelten sich erst später. Die RNS kann beide Funktionen erfüllen: Informationen speichern und kopieren wie die DNS und Reaktionen katalysieren wie die Enzyme. Der “RNS-Welt”-Theorie zufolge müssen Nitrile und andere Bausteine des Lebens nicht unbedingt alle auf der Erde selbst entstanden sein: Sie könnten auch aus dem Weltraum stammen und in Meteoriten und Kometen während der “späten schweren Bombardierung” vor 4,1 bis 3,8 Milliarden Jahren auf die junge Erde getrampt sein. In Kometen und Meteoriten hat man bereits Nitrile und andere Vorläufermoleküle für Nukleotide, Lipide und Aminosäuren gefunden.

Doch wo im Weltraum könnten diese Moleküle herkommen? Als erste Kandidaten kommen Molekülwolken in Frage, dichte und vor allem kalte Regionen des interstellaren Mediums, die sich für die Bildung komplexer Moleküle eignen. Die Molekülwolke G+0,693-0,027 beispielsweise hat eine Temperatur von etwa 100 Kelvin, einen Durchmesser von etwa drei Lichtjahren und eine Masse, die etwa tausendmal so groß ist wie die unserer Sonne. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich in G+0.693-0.027 gegenwärtig Sterne bilden, obwohl die Wissenschaftler vermuten, dass sie sich in Zukunft zu einer stellaren Kinderstube entwickeln könnte.

“Der chemische Gehalt von G+0.693-0.027 ähnelt dem anderer Sternentstehungsgebiete in unserer Galaxie und auch dem von Objekten des Sonnensystems wie Kometen. Das bedeutet, dass seine Untersuchung uns wichtige Erkenntnisse über die chemischen Bestandteile liefern kann, die in dem Nebel vorhanden waren, aus dem unser Planetensystem entstanden ist”, erklärt Rivilla. Er und seine Kollegen untersuchten die elektromagnetischen Spektren von G+0,693-0,027 mit zwei Teleskopen in Spanien: dem IRAM-Teleskop in Granada und dem Yebes-Teleskop in Guadalajara. Sie entdeckten die Nitrile Cyanoallen (CH2CCHCN), Propargylcyanid (HCCCH2CN) und Cyanopropyn, die bisher noch nicht in G+0.693-0.027 gefunden worden waren, obwohl sie 2019 in der TMC-1-Dunkelwolke in den Sternbildern Stier und Auriga nachgewiesen wurden, einer Molekülwolke mit ganz anderen Bedingungen als G+0.693-0.027. Zudem fanden die Forscher Hinweise auf das Vorkommen von Cyanoformaldehyd (HCOCN) und Glycolonitril (HOCH2CN) in G+0.693-0.027. Cyanoformaldehyd wurde zum ersten Mal in den Molekülwolken TMC-1 und Sgr B2 im Sternbild Schütze nachgewiesen, Glycolonitril im sonnenähnlichen Protostern IRAS16293-2422 B im Sternbild Ophiuchus.

Ein anderer Autor der Studie, Dr. Miguel A. Requena-Torres, kommt zu dem Schluss: “Dank unserer Beobachtungen in den letzten Jahren, einschließlich der vorliegenden Ergebnisse, wissen wir jetzt, dass Nitrile zu den häufigsten Molekülen im Universum gehören. Wir haben sie in Molekülwolken im Zentrum unserer Galaxie, in Protosternen verschiedener Massen, in Meteoriten und Kometen und auch in der Atmosphäre von Titan, dem größten Mond des Saturn, gefunden.” Zweitautorin Dr. Izaskun Jiménez-Serra blickt voraus: “Wir haben bisher mehrere einfache Vorstufen von Ribonukleotiden, den Bausteinen der RNS, nachgewiesen. Aber es gibt noch wichtige fehlende Moleküle, die schwer zu entdecken sind. Wir wissen zum Beispiel, dass für die Entstehung des Lebens auf der Erde wahrscheinlich auch andere Moleküle wie Lipide erforderlich waren, die für die Bildung der ersten Zellen verantwortlich waren. Daher sollten wir uns auch darauf konzentrieren zu verstehen, wie Lipide aus einfacheren Vorläufern, die im interstellaren Medium vorhanden sind, gebildet werden konnten.”

3D-Modell eines RNS-Strangs – von den Nitrilen bis zu dieser Struktur war es noch ein weiter Weg (Bild: Crocothery / Adobe Stock)

Leave a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

BrandonQMorris
  • BrandonQMorris
  • Brandon Q. Morris, 54, ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit den spannenden Phänomenen des Alls. So ist er für den redaktionellen Teil eines Weltraum-Magazins verantwortlich und hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Weltraum-Themen geschrieben. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Ihn fasziniert besonders das „was wäre, wenn“. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten – und vielleicht auch irgendwann Realität werden.