Was ist die Konstruktortheorie und was will sie erreichen?

“Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.” Diesen Satz hat Arthur Conan-Doyle seinen berühmten Detektiv Sherlock Holmes sagen lassen. Mit diesem Satz könnte man allerdings auch das Grundprinzip der Konstruktortheorie (bzw. Constructor Theory) zusammenfassen, die der bekannte Quantenphysiker David Deutsch und die italienische Physikerin Chiara Marletto seit nun etwa zehn Jahren entwickeln. Vorgestellt hat Deutsch ihre Prinzipien erstmals 2012, und seitdem hat sie große Erwartungen geweckt, ist aber natürlich auch auf viele Skeptiker gestoßen. Das liegt nicht daran, dass sie etwa die ultimative Theorie über die Grundkräfte des Universums liefert. Es handelt sich nicht um eine Konkurrenz zur Allgemeinen Relativitätstheorie oder zur Quantenphysik. Deutsch und Marletto haben damit bisher nichts herausgefunden, was wir nicht schon wüssten.

Warum handelt es sich trotzdem um eine der spannendsten Neuentwicklungen der Physik in den letzten fünfzig Jahren? Weil sie die Art und Weise auf den Kopf stellen will, wie wir physikalische Gesetze aufstellen und die Natur durch die Augen der Physik betrachten. Die übliche Herangehensweise besteht darin, das physikalische Gesetz herauszufinden, wie sich ein Objekt von Zustand A zu Zustand  B entwickelt. Die Kinematik verrät uns z.B., wie schnell ein Radfahrer abhängig von seiner Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen gelangt. Die Quantenphysik sagt uns dasselbe für ein Elektron, die Allgemeine Relativitätstheorie übernimmt diese Aufgabe für Planeten oder Raketen. Die Konstruktortheorie hingegen sieht die Welt völlig anders. Sie betrachtet eine Veränderung von A zu B als Aufgabe (task). Wichtiger aber sind die Unmöglichkeiten (counterfactuals): Sie bestimmen, ob die Ausführung einer Aufgabe möglich ist. Nur, wenn sie möglich ist, also nicht von einem Counterfactual verboten wird, existiert ein Konstruktor (constructor), der das System von A nach B bringt. IT-Menschen, die sich mit objektorientierter Programmierung auskennen, kommt das Konzept vielleicht bekannt vor. Tatsächlich hat sich Deutsch hier bei der Informationstheorie bedient.

Wie sähe eine praktische Anwendung aus? Betrachten wir ein Wasserrad, das sich dreht und dabei das Wasser nach oben transportiert, mit dem es angetrieben wird – also ein klassisches Perpetuum Mobile. Nun können wir Gründe finden, warum es nicht funktionieren kann: Reibungsverluste etwa. Das wäre die klassische Herangehensweise. Wenn wir das Perpetuum Mobile umbauen, brauchen wir eine neue Erklärung. Wir kennen aber auch eine passende Unmöglichkeit, ein Counterfactual: Das zweite Gesetz der Thermodynamik sagt, dass die Entropie eines solchen Systems mit der Zeit abnimmt, dass es also gar nicht dauerhaft im selben Zustand verbleiben KANN. Damit können wir alle derartigen Maschinen auf einen Schlag ausschließen. Erste Anwendungen des Prinzips sucht Deutsch in der Quanteninformationstheorie. Marletto hat u.a. eine Konstruktortheorie des Lebens vorgeschlagen, die ohne Rückgriff auf den Zufall oder höhere Mächte die Entstehung des Lebens erklärt.

Generell könnte die Konstruktortheorie hilfreich sein, wenn wir die Natur der dynamischen Prozesse beim Weg von A nach B noch gar nicht verstanden haben. Die Schwerkraft ist so ein Fall. Wir können sie zwar messen und nutzen, aber wir wissen auch, dass weder Newtons noch Einsteins Gravitationstheorien die Wirklichkeit vollständig beschreiben. Die Konstruktortheorie, sagen ihre Vertreter, würde allein aus einer Sammlung der Counterfactuals, der Unmöglichkeiten, neue Erkenntnisse schöpfen können, ohne ein Verständnis des Vorgangs selbst zu benötigen. Sie verhält sich dabei gewissermaßen, wie wir als Zuschauer eines Magiers vorgehen: Wir wissen zwar nicht, was der Magier da mit seiner weißen Taube anstellt, aber wir versuchen, über uns bekannte Unmöglichkeiten (Magier kann keine Taube aus dem Nichts erschaffen, sie ist zu groß, um sie in Mund oder Ohr zu stecken, und er wird sie ganz sicher nicht auf der Bühne töten) eine Theorie des gerade vorgeführten Zaubertricks zu erahnen (“Bestimmt versteckt er die Taube erst im Ärmel, dann im Zylinder”).

Ob der Konstruktortheorie damit irgendwann Durchbrüche gelingen, wird man sehen. Ein altbekanntes Feld mal aus einer ganz anderen Position zu betrachten, kann jedenfalls spannend sein.

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BrandonQMorris
  • BrandonQMorris
  • Brandon Q. Morris, 54, ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit den spannenden Phänomenen des Alls. So ist er für den redaktionellen Teil eines Weltraum-Magazins verantwortlich und hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Weltraum-Themen geschrieben. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Ihn fasziniert besonders das „was wäre, wenn“. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten – und vielleicht auch irgendwann Realität werden.