Der Familienstammbaum der Milchstraße

Von Klein zu Groß: das ist einer der möglichen Wege, wie sich Strukturen im Universum herausbilden. Galaxien wie unsere Milchstraße entstehen, wenn sich mehrere kleine Vorgängerobjekte zusammenschließen. Aber woraus genau hat sich die Milchstraße gebildet? Einem internationalen Team von Astrophysikern unter der Leitung von Dr. Diederik Kruijssen vom Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg ist es gelungen, die Verschmelzungsgeschichte unserer Heimatgalaxie zu rekonstruieren und ihren Stammbaum zu erstellen. Dazu analysierten die Forscher die Eigenschaften von Kugelsternhaufen, die die Milchstraße umkreisen.

Kugelsternhaufen sind dichte Gruppen von bis zu einer Million Sternen, die fast so alt sind wie das Universum selbst. Die Milchstraße beherbergt über 150 solcher Haufen. “Viele von ihnen stammen aus kleineren Galaxien, die später zur Milchstraße verschmolzen sind”, erklärt Kruijssen. Zur Untersuchung der Fusionsgeschichte entwickelten der Heidelberger Forscher und sein Kollege Dr. Joel Pfeffer von der Liverpool John Moores University und ihre Forschungsgruppen eine Reihe von Computersimulationen, die E-MOSAICS genannt werden. Diese Simulationen umfassen ein vollständiges Modell für die Bildung, Entwicklung und Zerstörung von Kugelsternhaufen.

Das deutsch-britische Team nutzte diese Simulationen, um das Alter, die chemische Zusammensetzung und die Bahnbewegungen der Kugelsternhaufen mit den Eigenschaften der Vorläufergalaxien in Beziehung zu setzen, in denen sie vor mehr als zehn Milliarden Jahren entstanden sind. Anschließend wandten sie diese Erkenntnisse auf Gruppen von Kugelsternhaufen in der Milchstraße an und fanden so nicht nur heraus, wie schwer diese Vorläufergalaxien waren, sondern auch, wann sie mit unserer Heimatgalaxie verschmolzen sind.

“Die Hauptherausforderung bestand darin, dass der Verschmelzungsprozess äußerst unübersichtlich ist, da die Bahnen der Kugelsternhaufen dabei völlig umgeschichtet werden”, erklärt Kruijssen. “Um diese Komplexität zu überwinden, entwickelten wir ein künstliches neuronales Netz und trainierten es mit den E-MOSAICS-Simulationen. Wir waren erstaunt, wie präzise die KI es uns ermöglichte, die Verschmelzungsgeschichten der simulierten Galaxien zu rekonstruieren, obwohl wir nur ihre Kugelsternhaufen verwendeten.” Die Forscher wandten das neuronale Netz dann auf Gruppen von Kugelsternhaufen in der Milchstraße an und bestimmten die Sternmassen und Fusionszeiten der Vorläufergalaxien genau. Sie entdeckten auch eine bisher unbekannte Kollision zwischen der Milchstraße und einer unbekannten Galaxie, die die Forscher “Kraken” nannten.

“Die Kollision mit “Kraken” muss die bedeutendste Fusion gewesen sein, die die Milchstraße je erlebt hat”, fügt Kruijssen hinzu. Früher dachte man, dass eine Kollision mit der Galaxie Gaia-Enceladus vor etwa neun Milliarden Jahren das größte Kollisionsereignis war. Die Fusion mit Kraken fand jedoch vor elf Milliarden Jahren statt, als die Milchstraße viermal kleiner war als heute. “Folglich muss die Kollision mit Kraken das damalige Aussehen der Milchstraße drastisch verändert haben”, so der Heidelberger Wissenschaftler.

Zusammengenommen ermöglichten es diese Erkenntnisse dem Forscherteam, den ersten vollständigen Stammbaum unserer Heimatgalaxie zu rekonstruieren. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Milchstraße etwa fünf Galaxien mit mehr als 100 Millionen Sternen und etwa zehn weitere mit mindestens zehn Millionen Sternen geschluckt. Die schwersten Vorläufergalaxien kollidierten vor sechs bis elf Milliarden Jahren mit der Milchstraße. Kruijssen erwartet, dass diese Vorhersagen die künftige Suche nach den Überresten der Vorläufergalaxien erleichtern werden: “Die Trümmer von mehr als fünf Vorläufergalaxien sind jetzt identifiziert worden. Mit aktuellen und zukünftigen Teleskopen sollte es möglich sein, sie alle zu finden.”

Stammbaum der Milchstraße. Der Hauptvorläufer der Milchstraße ist durch den Stamm des Baumes gekennzeichnet. Schwarze Linien kennzeichnen die fünf identifizierten Galaxien. Grau gepunktete Linien stellen andere Verschmelzungen dar, die die Milchstraße erlebte und die nicht mit einem bestimmten Vorläufer verbunden werden konnten. Von links nach rechts zeigen die sechs Bilder entlang der Spitze der Abbildung die identifizierten Vorläufergalaxien. (Bild: D. Kruijssen / Universität Heidelberg)
Film einer der E-MOSAICS-Simulationen, der die Entstehung einer milchstraßenähnlichen Galaxie zeigt. (Video: J. Pfeffer, D. Kruijssen, R. Crain, N. Bastian)

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BrandonQMorris
  • BrandonQMorris
  • Brandon Q. Morris, 54, ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit den spannenden Phänomenen des Alls. So ist er für den redaktionellen Teil eines Weltraum-Magazins verantwortlich und hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Weltraum-Themen geschrieben. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Ihn fasziniert besonders das „was wäre, wenn“. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten – und vielleicht auch irgendwann Realität werden.