Wenn ein Stern zerreißt …

… erzeugt ein Myon tief unter dem Eis der Antarktis eine Spur in einem gigantischen Detektor. Das Myon ist entstanden, weil ein energiereiches Neutrino mit einem Atom des Detektors wechselgewirkt hat. Das Neutrino begann seine Reise vor rund 700 Millionen Jahren, etwa zu der Zeit, als sich die ersten Tiere auf der Erde entwickelten. Das ist die Reisezeit, die das Teilchen brauchte, um von der weit entfernten, namenlosen Galaxie (katalogisiert als 2MASX J20570298+1412165) im Sternbild Delphin zur Erde zu gelangen. Entstanden ist es in Folge von “AT2019dsg”. So nennen Astronomen ein Ereignis, bei dem ein Stern von einem Schwarzen Loch zerrissen wurde.

Aber nicht von irgendeinem Schwarzen Loch. Wissenschaftler schätzen, dass das riesige Schwarze Loch so schwer ist wie 30 Millionen Sonnen. “Die Schwerkraft wird immer stärker, je näher etwas an das Objekt herankommt. Das bedeutet, dass die Schwerkraft des Schwarzen Lochs die nahe Seite des Sterns stärker anzieht als die ferne Seite des Sterns, was zu einem Dehnungseffekt führt”, erklärt Robert Stein vom Hamburger DESY, der mit Kollegen darüber ein Paper verfasst hat. “Dieser Unterschied wird als Gezeitenkraft bezeichnet. Je näher der Stern kommt, desto extremer wird diese Dehnung. Schließlich reißt sie den Stern auseinander, und dann sprechen wir von einer Gezeitenzerstörung. Es ist derselbe Prozess, der zu den Gezeiten auf der Erde führt, aber zum Glück für uns zieht der Mond nicht stark genug, um die Erde zu zerfetzen.”

Etwa die Hälfte der Sterntrümmer wurde dabei ins All geschleudert, während sich die andere Hälfte in Form einer um das Schwarze Loch wirbelnden Scheibe übrigblieb. Diese “Akkretionsscheibe” ist in etwa vergleichbar mit dem Wasserwirbel über dem Abfluss einer Badewanne. Bevor auch noch die Materie der Akkretionsscheibe in das Loch stürzt, wird sie immer heißer und leuchtet hell. Dieses Leuchten wurde erstmals am 9. April 2019 von der Zwicky Transient Facility (ZTF) entdeckt – einer Roboterkamera am Palomar-Observatorium des Caltech in Südkalifornien.

Ein halbes Jahr später, am 1. Oktober 2019, registrierte der Neutrinodetektor IceCube am Südpol ein extrem energiereiches Neutrino aus der Richtung des Gezeitenstörungsereignisses. “Es schlug mit einer bemerkenswerten Energie von mehr als 100 Teraelektronenvolt im antarktischen Eis ein”, sagt Co-Autorin Anna Franckowiak vom DESY, die heute Professorin an der Universität Bochum ist. “Zum Vergleich: Das ist mindestens das Zehnfache der maximalen Teilchenenergie, die im leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider am europäischen Teilchenphysiklabor CERN bei Genf, erreicht werden kann.”

AT2019dsg ist damit ein extrem leistungsfähiger kosmischer Teilchenbeschleuniger. Er hat ja auch noch viele, viele weitere dieser Neutrinos in das All geschossen.

Ein Blick auf die Akkretionsscheibe um das supermassive Schwarze Loch, mit jetartigen Strukturen, die von der Scheibe wegfließen. Die extreme Masse des Schwarzen Lochs krümmt die Raumzeit, sodass die andere Seite der Akkretionsscheibe als Bild oberhalb und unterhalb des Schwarzen Lochs zu sehen ist. (Bild: DESY, Science Communication Lab)
Nachdem das supermassive Schwarze Loch den Stern zerrissen hatte, wurde etwa die Hälfte der Sterntrümmer zurück ins All geschleudert, während der Rest eine glühende Akkretionsscheibe um das Schwarze Loch bildete. (Bild: DESY, Science Communication Lab)

Leave a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

BrandonQMorris
  • BrandonQMorris
  • Brandon Q. Morris, 54, ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit den spannenden Phänomenen des Alls. So ist er für den redaktionellen Teil eines Weltraum-Magazins verantwortlich und hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher über Weltraum-Themen geschrieben. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Ihn fasziniert besonders das „was wäre, wenn“. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten – und vielleicht auch irgendwann Realität werden.